Antike Vorurteile gegen Christen

Ritualmord im Christentum - Ursprünge und Ursachen eines antiken heidnischen Vorurteils

Die folgenden Ausführungen sind im Wesentlichen eine Zusammenfassung von Franz Joseph Dölger, „Sacramentum infanticidii.“ Die Schlachtung eines Kindes und der Genuß seines Fleisches und Blutes als vermeintlicher Einweihungsakt im ältesten Christentum, in: Ders., Antike und Christentum IV, Münster 1934, S. 188-228.

Den Ausgangspunkt unserer Untersuchung bildet Tertullians Apologeticum, Kapitel VIII: dort schildert er eine Szene, die einer Weihevorbereitung exakt nachgebildet ist.
Zunächst interpretiert Dölger diese Szene und zeigt auf, dass Tertullian den Heiden vor allem den religiösen Widersinn vor Augen führen will, der darin liegt, dass man annimmt, auf Grund eines solchen Initiationsritus Unsterblichkeit erlangen könne. Tertullian beruft sich dabei auf die heidnische Mysterienfrömmigkeit, die durch den Einweihungsritus die Erlangung ewigen Lebens annimmt. Das schlägt sich etwa in dem Griechischen Ausdruck für diese Weihe, teletê, aber auch in dem von Tertullian verwendeten Ausdruck initiatus et consignatus nieder, was im Grunde nur eine Umschreibung für den Ausdruck sacramentum im Sinne einer weihenden Handlung ist.
Es existierte also der von den Heiden ans Christentum herangetragene Vorwurf des sacramentum infanticidii, eines Einweihungsritus der in der Ermordung eines Kindes bestand, konstatiert Dölger. Zudem werde dieser Vorwurf von den Heiden als Zauber-Ritual aufgefasst. In den Zauberpapyri gibt es mehrere Belege für eine Anlehnung der Wortwahl eines Zauber-Ritus an die einer religiösen Zeremonie. Die Christen waren als Zauberer verschrien und der mit der Zauberei verbundene Vorwurf des infanticidium wurde ebenfalls auf sie übertragen. Der Vorwurf existierte wohl schon seit dem Anfang des zweiten Jahrhunderts (Plinius-Brief (X 96,7): morem … coeundi ad capiendum cibum, promiscuum tamen innoxium) In der Mitte des zweiten Jahrhunderts scheint der Vorwurf der rituellen Kindstötung und des anschließenden Verzehrs schon weit verbreitet zu sein; die griechischen Apologeten weisen ihn immer wieder zurück. Dölger stimmt Heinze nicht zu, wenn dieser annimmt, der Vorwurf des rituellen Kindsmordes sei nur indirekt aus dem Vorwurf des Verzehrs erschlossen worden.
An verschiedenen Stellen der antiken Literatur kann man die Wortwahl der Anschuldigungen herauslesen; Den Christen wird Menschenfresserei, also Kannibalismus vorgeworfen. Damit stellt man die Christen auf eine Stufe mit den Skythen oder den Massageten, also den unzivilisiertesten Völkern, die man kannte. Verbreitung fanden diese Anschuldigungen wohl durch den nordafrikanischen Redner Fronto zur Zeit Kaiser Mark Aurels. Aber auch noch unter Philippus Arabs (244-249) warf man solches den Christen vor.
Die Frage nach dem Ursprung des Vorwurfs des Kinderschlachtens und Kinderessen ist nach Dölger bisher nur unzureichend erörtert worden. Er gibt einen Überblick über bis dato erschienene Werke zu dem Thema:
Kortholt 16835 legt lediglich die Entstehung des Vorwurfs des Inzests dar. Seiner Meinung handele es sich dabei um ein Missverständnis der Bezeichnung Bruder und Schwester, Kortholt geht aber auf das infanticidium nur in der Form ein, dass er widerlegt, dass dieser Vorwurf durch gnostische Gruppen entstanden sein könne, wie es Eusebius vermutet hatte.
Wormius 16956 widerlegt ebenfalls die Auffassung, dass der Vorwurf auf die Gnostiker zurückgehen soll, indem er als Beleg für diesen Vorwurf schon im 1. Jh. Plinius anführt. Wormius sieht den Vorwurf der Anthropophagie eher aus der Tatsache erwachsen, dass sich die Christen in Zeiten der Bedrohung und zur Anbetung der Märtyrer in die Katakomben zurückgezogen haben. Das Martyrium sei als Bluttaufe verstanden und von den Christen zur Tilgung aller Sünden als sehr erstrebenswert erachtet worden. Dies sei von den Heiden missverstanden worden, in dem Sinne, dass man annahm, dass die Christen bei ihren Versammlungen in den Katakomben zu dem Sühneakt Blut verwendeten. Das Missverständnis der Eucharistie hätte nach Wormius nur zur Erweiterung dieses Gerüchts beigetragen.
Das wird von Dölger aber bestritten, da Wormius die Katakomben fälschlicherweise als Zufluchtsstätten bewertet. Außerdem sei eine derart komplizierte Entstehung eines solchen Vorwurfs unwahrscheinlich.
Waltzing nimmt an, dass sich die Entstehung des Vorwurfs der Anthropophagie vollkommen aus dem Abendmahl als Teilnahme an Leib und Blut Christi erklären lasse. Er stützt sich dabei auf Tert. ux. II 4: convivium dominicum illud, quod infamant und auf Joh 6,53: ειπεν ουν αυτοις ο Ιησους: αμην αμην λεγω υμιν εαν μη φαγητε την σαρκα του υιου του ανθρωπου και πιητε αυτου το αιμα, ουκ εχετε ζωην εν εαυτοις.

1. Vorwurf der Juden gegen die Christen

Achelis, H.: Das Christentum in den ersten drei Jahrhunderten I, Leipzig 1912, S. 205 geht davon aus, dass ein Vorwurf, der gegen die Juden erhoben wurde, nun auf die Christen angewendet wird. Er stützt sich dabei auf Flavius Josephus, Contra Apionem II 7, eine Stelle die allerdings nach Meinung Dölgers zu dem Vorwurf des infanticidium nicht allzu viel hergibt, da lediglich von der Ermordung eines Erwachsenen die Rede ist, und diese nicht einmal zu einem kultischen Zwecke. Die Schilderung des Apion bei Flavius Josephus begegnet in kurzer Form auch bei Suidas, Lexicon I zweimal und wird hier dem Damokritos zugeschrieben. Dort wird auch davon berichtet, dass die Juden einen goldenen Eselskopf verehren.
Letztere Legende ist nachweislich auf das Christentum übertragen worden, was vor allem möglich war, weil die Heiden zwischen Judentum und Christentum zunächst keinen Unterschied machten. Aber dennoch kann die Begründung von Achelis für den Kindsmord und –verzehr als Initiationsritus nicht als vollständig angesehen werden und bedarf noch einiger Untermauerung.

2. Verschwörungsritual

Bei Plinius ep. X 96 erscheinen die Christen nach dem, was die Verhandlung gezeigt hatte, als eine religiöse Genossenschaft, die sich nachts versammelt und daher mit dem Verdacht nächtlicher Verschwörung und nächtlichen Zaubers belegt wird. Dies wird bei Plinius durch die Verwendung des Begriffs sacramentum deutlich. Dies kann man sowohl als Weihehandlung als auch als religiöse Eidverpflichtung ansehen. Ein Menschenopfer mit anschließender Anthropophagie als Akt der Verschwörung begegnet in der antiken Literatur im Zusammenhang mit der Catilinarischen Verschwörung. So bei Dio Cassius, Historia Romana 37,30 und Plutarch, Cicero 10,4 u.a. Alle gehen wohl auf die Darstellung des Sallust (De Catilinae coniuratione 22) zurück, wo es noch lediglich als Gerücht angeführt wird. Tertullian und Minucius Felix kennen diesen Bericht ebenfalls. Ein Unterschied besteht allerdings in der Auffassung von der Gewinnung des Bluts, das als Verschwörungstrank benutzt wird. Tertullian sagt, er wisse es nicht, Minucius Felix lässt es offen, während bei Sallust ganz klar von der Tötung eines Menschen ausgeht.
Diese Schilderung bei Sallust ist von großer Bedeutung, da sie zeigt, was man Verschwörern zutraute. Dies konnte leicht auch den Christen geschehen, zumal bei ihnen noch der Verdacht des Zaubers hinzutrat.

3.Zauberei

Vorwurf des Kindeschlachtens ist typisch gegenüber Zauberei. Dieser Vorwurf ist meistens mit dem haruspicium verknüpft. Allerdings ist es in der Antike üblich, das Fleisch des Opfertiers anschließend zu essen. Der Zauberer gilt in der Antike als Übeltäter schlechthin. Und so gibt es in der antiken Literatur zahlreiche Belege dafür, dass Zauberern Kindsmord zugeschrieben wird.
Ein Grund für diese Tatsache ist wohl darin zu sehen, dass die Seelen frisch getöteter Kinder als Rachegeister als für den Schadenszauber besonders geeignet angesehen wurden. Die Kindstötung als Bestandteil des Wahrsagezaubers war zudem tief im Volksglauben verwurzelt.

4.Einweihungsfeiern in gnostischen Kreisen

Die christlichen Parteien warfen sich untereinander den heidnischen Anschuldigungen recht ähnliche Dinge vor. Bei den Montanisten soll ein sogenanntes mysterium cynicon bestanden haben, was besagt, dass die Gemeinde am Pascha-Fest das Blut eines Kindes in das Opfer mischt und dann dieses Opfer der Gemeinde zusendet. Weitere Belege hierfür finden sich bei Augustinus, De haeresibus 26. Schon Tertullian widerlegt in seiner Schrift gegen Papst Soter diesen Vorwurf für die Montanisten. Diese innerchristlichen Fehden haben mit Sicherheit dazu geführt, dass die Heiden ihre Meinung bestätigt sahen und auf die gesamte Christenheit übertrugen.
Das Gerücht ist aber nicht erst mit dem Auftreten des Montanismus erwachsen, sondern bestand schon vorher. Außerdem ist es wahrscheinlicher, dass – wie Epiphanius schreibt – solche Ausschweifungen eher bei libertinistischen Gnostikern aufgetreten sind. Hierbei wird Epiphanius wohl eine glaubwürdige Quelle sein, wie andere Details aus koptischen Schriften belegen. Damit kommt man dem Ursprung des heidnischen Vorwurfs ein gutes Stück näher.
Auch Klemens von Alexandrien berichtet von einer solchen Sekte, den Karpokratianern, eben das, was später den Christen vorgeworfen wird, nämlich Mahl, Umstürzen der Leuchter, wahllose Unzucht. Für solche Ausschweifungen bei den Karpokratianern gibt es in der Literatur zahlreiche weitere Belege, die annehmen lassen, dass es sich zumindest zum Teil um wirkliche Vorfälle gehandelt haben muss. Irenäus merkt ausdrücklich an, dass die Ausschweifungen der Karpokratianer dazu Anlass gegeben haben, diese Vorwürfe auf die Christen auszudehnen. Ein solcher Hinweis findet sich auch bei Euseb, wo auch implizit vom infanticidium die Rede ist.
Justin gibt einen Hinweis schon für die erste Hälfte des 2. Jahrhunderts, wobei er den Vorwurf zu widerlegen versucht, dass es das sacramentum infanticidii im Christentum als Einweihungsakt gegeben habe, der ja auch für Tertullian entscheidend ist.
Allerdings bleibt festzuhalten, dass der Vorwurf des infanticidium gegen christliche Sekten, besonders gnostische Gruppen, einen solchen Vorwurf gegen das Christentum insgesamt und die christliche Kirche nicht hervorgerufen, wohl aber bestärkt hat, so dass er über mehrere Jahrhunderte hinweg bestehen konnte.

5.Missverständnis der Eucharistie

Joh 6,53 („Wenn ihr das Fleisch des Menschensohnes nicht essen und sein Blut nicht trinken werdet, so werdet ihr das Leben nicht in euch haben.“) beschreibt den Verzehr von Fleisch und Blut eines Menschensohnes als heilsnotwendigen Einweihungsakt ins Christentum. Der christologische Hoheitstitel hyios tou anthrôpou konnte von Außenstehenden leicht so aufgefasst werden, als handele es sich um ein Kind, zumal es zahlreiche Belege dafür gibt, dass im 2. nachchristlichen Jahrhundert die Begriffe hyios und pais synonym verwendet wurden.
Der von den Juden gegen die Christen erhobene Vorwurf des infanticidium wird meistens mit der Eucharistie in Verbindung gebracht. Aber auch sonst finden sich Belege, dass im Volksglauben der Verzehr des Kindes bei der Eucharistie angenommen wurde.


Tertullian, Apologeticum VII

(1) Dicimur sceleratissimi de sarcramento infanticidii et pabulo inde et post convivium incesto, quod eversores luminum canes, lenones scilicet tenebrarum, libidinum impiarum in verecundiam procurent.

Man sagt, wir seien die größten Verbrecher wegen des rituellen Kindermordes und des Fraßes von den Gemordeten und wegen der auf das Mahl folgenden Blutschande, die durch das Umstürzen der Leuchter die Hunde - offensichtlich die Kuppler der Dunkelheit - so vorbereiteten, dass die frevelhaften Ausschweifungen mit allem Anstand von statten gingen.

(2) dicimur tamen semper, nec vos quod tamdiu dicimur eruere curatis. ergo aut eruite, si creditis, aut nolite credere, qui non eruistis! de vestra vobis dissimulatione praescribitur non esse quod nec ipsi audetis eruere. longe aliud manus carnifici in Christianos imperatis, non ut dicant quae faciunt, sed ut negent quod sunt.

Man sagt es jedoch immer nur, ohne dass ihr es euch angelegen sein ließet, dem, was man so lange schon sagt, einmal auf den Grund zu gehen. Also untersucht es entweder, falls ihr es glaubt, oder aber glaubt es nicht, wenn ihr es nicht untersucht! Euer eigenständiges Hinwegsehen berechtigt zu der Einrede, dass gar nicht wahr ist, was ihr auch selbst nicht zu untersuchen wagt. Einen bei weitem anderen Auftrag pflegt ihr dem Folterknecht gegen die Christen zu erteilen: nicht dass sie sagen sollen, was sie tun, sondern, dass sie leugnen sollen, was sie sind.

(3) Census istius disciplinae, ut iam edidimus, a Tiberio est. cum odio sui coepit veritas; simul atque apparuit, inimica est. tot hostes eius quot extranei, et quidem proprie ex aemulatione Iudaei, ex concussione milites, ex natura ipsi etiam domestici nostri.

Der Ursprung unserer Lehre geht, wie wir bereits gesagt haben, auf Tiberius zurück. Verhasst zu sein - damit begann die Wahrheit; sobald sie erscheint, gilt sie auch schon als Feindin. So zahlreich sind ihre Feinde wie die Außenstehenden, und zwar aus wirklicher Feindschaft die Juden, aus erpresserischen Absichten die Soldaten, aus natürlichem Trieb heraus sogar unsere eigenen Bediensteten.

(4) cottidie obsidemur, cottidie prodimur, in ipsis plurimum ceotibus et congregationibus nostris opprimimur.

Täglich werden wir umlauert, täglich verraten, sehr häufig mitten in unseren Versammlungen und Zusammenkünften überfallen.

(5) quis umquam taliter vagienti infanti supervenit? quis cruenta, ut invenerat, Cyclopum et Sirenum ora iudici reservavit? quis vel in uxoribus aliqua immunda vestigia deprehendit? quis talia facinora, cum invenisset, celavit aut vendidit, ipsos trahens homines?

Wer wäre dabei jemals auf solch ein wimmerndes Kind gestoßen? Wer hätte die blutigen Kyklopen- und Sirenenmäuler so, wie er sie fand, für den Richter aufbewahrt? Wer hätte gar an verheirateten Frauen die geringsten unreinen Spuren entdeckt? Wer hätte solche Greuel, nachdem er sie einmal gefunden, verheimlichen können oder sich abkaufen lassen, wenn er die Personen selbst doch vor Gericht zog?

(6) Si semper latemus, quando proditum est quod admittimus? immo a quibus prodi potuit? ab ipsis enim reis non utique, cum vel ex forma omnibus mysteriis silentii fides debeatur. Samothracia et Eleusinia reticentur; quanto magis talia, quae prodita interim etiam humanam animadversionem provocabunt, dum divina serva[n]tur!

Wenn wir uns immer verborgen halten - warum ist überhaupt verraten worden, was wir Schlimmes tun? Vielmehr: von wem hätte es verraten werden können? Denn von den Angeklagten selbst gewiss nicht, da schon ihrem Wesen nach alle Geheimkulte zu treuem Schweigen verpflichten. Über die Samothrakischen und Eleusinischen Kulte verlautet kein Wort - um wieviel weniger über solche, die bei einem Verrat vorerst schon eine menschliche Bestrafung auf sich ziehen würden, während die göttliche aufgespart bliebe!

(7) si ergo non ipsi proditores sui, sequitur ut extranei. et unde extraneis notitia, cum semper etiam [in]piae initiationes arceant profanos et <ab> arbitris caveant? nisi si impii minus metuunt.

Wenn also nicht sie selbst ihre Verräter sind, dann sind es folglich Außenstehende. Doch woher sollen Außenstehende davon Kenntnis haben, da selbst fromme Weihen immer die Ungeweihten fernhalten und sich vor Zeugen hüten? Sollten etwa Unfromme weniger Furcht hegen?

(8) Natura famae omnibus nota est. vestrum est: „Fama malum, qua non aliud velocius ullum.“ cur malum fama? quia velox? quia index? an quia plurimum mendax? quae ne tunc quidem, cum aliquid veri adfert, sinde mendacii vitio est, detrahens, adiciens, demutans de veritate.

Die Natur des Gerüchtes ist allen bekannt. Bei euch heißt es: „Das Gerücht - ein Übel, geschwinder als alle die andern.“ Warum ist das Gerücht ein Übel? Weil es geschwind ist? Weil es etwas kundgibt? Oder weil es meistens lügt? Denn nicht einmal dann, wenn es etwas Wahres berichtet, ist es frei vom Makel der Lüge, da es von der Wahrheit etwas wegnimmt, etwas hinzusetzt, etwas verändert.

(9) quid quod ea illi condicio est, ut non nisi cum mentitur, perseveret, et tamdiu vivit, quamdiu non probat? siquidem ubi probavit, cessat esse et quasi officio nuntiandi functa rem tradit; et exinde res tenetur, res nominatur.

Und dann ist es ja doch sein Los, dass es nur, wenn es lügt, Bestand hat, und nur so lange lebt, wie es keinen Beweis erbracht hat. Denn hat es diesen einmal erbracht, hört sein Dasein auf, und als verrichte es nun den Dienst eines Boten, übermittelt es die Tatsache; und von da an hält man sich an die Tatsache, spricht von der Tatsache.

(10) nec quisquam dicit verbi gratia: „hoc Romae aiunt factum“, aut: „fama est illum provinciam sortitum“, sed: „sortitus est ille provinciam“, et: „hoc factum est Romae“.

Niemand sagt dann beispielsweise: „Das, heißt es, sei in Rom geschehen“ oder „Es geht das Gerücht, der habe eine Provinz bekommen“, sondern: „Der und der hat eine Provinz bekommen“ und „Das ist in Rom geschehen“.

(11) fama, nomen incerti, locum non habet, ubi certum est. an vero famae credat nisi inconsideratus? quia sapiens non credit incerto. omnium est aestimare, quantacumque illa ambitione diffusa sit, quantacumque adseveratione constructa, quod ab uno aliquando principe exorta sit necesse est

Das Gerücht, ein Wort für das Ungewisse, hat keinen Raum, wo Gesissheit herrscht. Oder ab glaubt jemand anderes an ein Gerücht als der Unvernünftige? Denn ein kluger Mensch glaubt nicht an Ungewisses. Jeder kann es sich klarmachen: wie weit ein Gerücht auch verbreitet sein, mit welcher Beharrlichkeit es auch vertreten werden mag - es muss doch einmal von einem einzigen Urheber ausgegangen sein.

(12) exinde in traduces linguarum et aurium serpit, et ita modici seminis vitium cetera rumoris obscurat, ut nemo recogitet, ne primum illud os mendacium seminaverit, quod saepe fit aut ingenio aemulationis aut arbitrio suspicionis aut non nova, sed ingenita quibusdam mentiendi voluptate.

Von da rankt es sich allmählich empor, wird in Zungen und Ohren eingepfropft, und auf diese Weise breitet der Fehler im Samenkörnchen Dunkel über all die weiteren Gerüchte, so dass niemand mehr darüber nachdenkt, ob nicht jener erste Mund eine Lüge gesät hat, wie es oft geschieht - sei es aus der Erfindungsgabe der Feindschaft, aus einer willkürlichen Verdächtigung oder aus einer nicht spontanen, sondern manchem von Geburt innewohnenden Freude am Lügen.

(13) bene autem quod omnia tempus revelat, testibus etiam vestris proverbiis atque sententiis, ex dispositione naturae, quae ita ordinavit, ut nihil diu lateat, etiam quod fama non distulit.

Gut nur, dass die Zeit alles entschleiert [auch eure Sprichwörter und Maximen bezeugen es], nach der Fügung der Natur, die die Welt so geordnet hat, dass nichts lange verborgen bleibt, auch das nicht, was kein Gerücht verbreitet hat.

(14) Merito igitur fama tamdiu conscia sola est scelerum Christianorum; hanc indicem adversus nos profertis, quae quod aliquando iactavit tantoque spatio in opinionem corroboravit, usque adhuc probare non valuit.

Begreiflich also, dass so lange Zeit nur das Gerücht um die Verbrechen der Christen weiß. Dies nun lasst ihr als Angeber gegen uns auftreten, obwohl es doch, was es einst ausgestreut hat und in solch langem Zeitraum zur festen Meinung hat werden lassen, bis heute nicht zu beweisen vermochte.


Tertullian, Apologeticum VIII

(1) Ut fidem naturae ipsius appellem adversus eos, qui talia credenda esse praesumunt, ecce proponimus horum facinorum mercedem: vitam aeternam repromittunt. credite interim! de hoc enim quaero, an et qui credideris tanti habeas ad eam tali conscientia pervenire.

Um das Zeugnis der Natur selbst gegen diejenigen aufzurufen, die überzeugt sind, man mpsse solche Dinge glauben: seht, hier verkünden wird den Lohn für diese Greuel - sie verheißen das ewige Leben. Glaubt es vorerst einmal! Darauf nämlich zielt meine Frage ab, ob du, auch wenn du es glaubst, es für so wertvoll hältst, das ewige Leben mit einem solchen Gewissen zu erreichen.

(2) veni, demerge ferrum in infantem nullius inimicum, nullius reum, omnium filium; vel, si alterius officium est, tu modo adsiste morienti homini, antequam vixit; fugientem animam novam exspecta, excipe rudem sanguinem, eo panem tuum satia, vescere libenter!

Komm, stoße dein Messer in ein Kind, das niemandes Feind, niemandes Schuldner, aller Sohn ist; oder wenn dies das Amt eines anderen ist, dann stehe du wenigstens dabei, wenn ein Mensch stirbt, noch ehe er gelebt hat; achte darauf, wie die junge Seele entweicht, fange das kindliche Blut auf, tränke damit dein Brot, iss davon mit Freuden!

(3) interea discumbend dinumera loca, ubi mater, ubi soror; nota diligenter, ut, cum tenebrae ceciderint caninae, non erres! piaculum enim admiseris, nisi incestum feceris.

Unterdessen, während du zu Tische liegst, zähle die Plätze ab, wo deine Mutter liegt, wo deine Schwester; schau genau hin, damit du dich nicht versiehst, wenn durch die Hunde die Dunkelheit hereinbricht. Denn einen Frevel verübst du, wenn du keine Blutschande begehst.

(4) talia initiatus et consignatus vivis in aevum. cupio respondeas, si tanti aeternitas; aut si non, ideo nec credenda. etiamsi credideris, nego te velle; etiamsi volueris, nego te posse. cur erga alii possint, si vos non potestis? cur non possitis, si alii possunt?

Mit solchen Weihen und Ordenszeichen lebst du dann in alle Ewigkeit. Ich möchte, dass du antwortest, ob das ewige Leben so viel wert ist - oder aber, wenn es das nicht ist, darf man solche Dinge auch nicht glauben. Selbst wenn du es glaubst, bestreite ich, dass du dazu bereit wärest; selbst wenn du dazu bereit wärest, bestreite ich, dass du dazu fähig wärest. Warum also solltet ihr nicht dazu fähig sein, wenn andere es sind?

(5) alia nos, opinor, natura, Cynopennae aut Sciapodes; alii ordines dentium, alii ad incestam libidinem nervi. qui ista credis de homine, potes et facere; homo es et ipse quod et Christianus. qui non potes facere, non debes credere. homo est enim et Christianus, et quod et tu.

Anders, offenbar, ist unsere Natur, wir sind Hundsgesichter oder Schattenfüßler; anders gefügt sind unsere Zahnreihen, anders unsere Organe zu blutschänderischer Lust. Wenn du dies von einem Menschen glaubst, kannst du es auch tun; ein Mensch bist auch du selbst, ebenso wie der Christ. Wenn du es aber nicht tun kannst, darfst du es auch nicht glauben. Denn ein Mensch ist auch der Christ, also dasselbe wie du.

Buchtipp: Tertullian, Apologeticum XXX. Übersetzung und Kommentar