Die Geschichte des neutestamentlichen Kanons

Das Neue Testament, wie es heute in Gebrauch ist, besteht aus 27 Schriften. Es sind zunächst die vier Evangelien nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Daran schließt sich die Apostelgeschichte an, die vom Verfasser des Lukasevangeliums stammt. Außerdem enthält das Neue Testament 21 Briefe, sowie die Apokalypse - die Offenbarung des Johannes. Es gibt allerdings eine ungeheure Vielzahl weiterer frühchristlicher Schriften (Evangelien, Apokalypsen, Briefe und geschichtliche Darstellungen) .

Doch warum gibt es überhaupt eine festgelegte Auswahl von Schriften, die rechtsgültig sind? Und wie kam es zu ausgerechnet dieser Zusammenstellung? Warum sind außerdem andere Schriften nicht in den Kanon des Neuen Testaments aufgenommen worden?

Das Neue Testament, das heute die schriftliche Grundlage des christlichen Glaubens bildet, ist nicht von Beginn an als Einheit konzipiert worden. Vielmehr gibt es ein reiches ur- und frühchristliches Schrifttum. Regional waren im frühen Christentum unterschiedliche Schriften im gottesdienstlichen Gebrauch. Die zunehmende Klerikalisierung und voranschreitende überregionale Institutionalisierung der Kirche machte es notwendig, einen festen Schriftkanon festzulegen, der für alle Christen verbindlich sein sollte.

Die Entstehungsgeschichte dieses neutestamentlichen Kanons wollen wir hier etwas näher beleuchten.

Paulusgrotte Ephesos Fresko Thekla

Darstellung der Thekla in der sog. Paulus-Grotte in Ephesos. Thekla ist aus den apokryphen AKten des Paulus und der Thekla bekannt.


Abfassungszeit der Schriften des Neuen Testaments

Die Abfassungszeit der Schriften, die uns heute im Neuen Testament begegnen, liegt nach Meinung der meisten Experten in den etwa einhundert Jahren von der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts bis zur ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts. Die frühesten Schriften des Neuen Testaments sind die Briefe des Paulus, die etwa zwischen 50 und 60 n. Chr. verfasst worden sind. Nach allgemeiner Auffassung ist das Markus-Evangelium das älteste der vier kanonischen Evangelien; es wurde etwa 70 n. Chr. verfasst. Auf Markus folgt zeitlich gesehen die Abfassung des Matthäusevangeliums in der Zeit zwischen 70 und 80 n. Chr. Das Lukasevangelium wurde zwischen 80 und 90 n. Chr. verfasst, das Johannesevangelium- als das letzte der vier Evangelien - etwa 95 - 100 n. Chr. (vgl. hierzu auch unseren Artikel zur Zwei-Quellen-Theorie...)

Die spätesten Texte des Neuen Testament sind der 2. Petrusbrief (120 - 130 n. Chr.), sowie die Apokalypse oder Offenbarung des Johannes. Wie neueste Forschungen glaubhaft nachweisen (gemeint ist der Münsteraner Neutestamentler Thomas Witulski) ist diese letzte Schrift des Neuen Testaments wahrscheinlich erst um 134 n. Chr. verfasst worden!


Gnosis und Marcion

Ab der Mitte des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts beginnt zudem die synkretistisch-esoterische Strömung der Gnosis, sich auch verstärkt in christlichen Kreisen auszubreiten. Die verschiedenen gnostischen Gruppierungen bilden ein äußerst umfangreiches Schrifttum heraus, das sich oft auf Apostel oder gar Jünger beruft (etwa „Die Geheimlehre des Johannes“, „Das Evanglium des Jakobus“ etc.). Im Schriftenkorpus von Nag Hammadi sind zahlreiche Texte der christlichen Gnosis erhalten geblieben.

Diese Schriften unterscheiden sich jedoch radikal von dem, was eigentlich christlich ist. Es geht in diesen Schriften vielmehr darum, das eigene gnostische Gedankengut (oft auf allegorische Weise) darzustellen. Um den Christen eine Richtschnur (vgl. Wortbedeutung von „Kanon“, s. u.) und Orientierung zu geben wurde es daher notwendig, bestimmte Schriften als nicht rechtgläubig zu klassifizieren und eine maßgebliche Sammlung zusammenzustellen.

Den eigentlichen Impuls zur Kanonbildung gab jedoch der „Erzketzer“ Marcion, der um 140 n. Chr. in Rom lehrte. Er vertrat eine „Zwei-Götter-Lehre“. Der Gott des Alten Testaments war für ihn der böse, strafende Rächergott. Im Neuen Testament werde hingegen der höchste, gütige und wahre Gott verkündigt. Daher verwarf Marcion das Alte Testament und hielt die christliche Auslegung der Lehre Jesu ebenfalls für falsch. Denn die Kirche lehrte in Anlehnung an das Neue Testament ja Christus als Offenbarer des jüdischen Gottes. Das konnte für Marcion nicht sein, da Jesus ganz klar das jüdische Gesetz aufhebe und somit losgelöst von ihm zu sehen sei. Marcion schuf sich daher einen „Kanon“ mit seiner Meinung nach wahrhaftigen Schriften. Er verwarf alle Evangelien, bis auf dasjenige des Lukas, den er für einen Begleiter des Paulus hielt. Außerdem hatte er keine Scheu, Passagen, die seiner Auffassung nach falsche Lehren enthielten, aus dem Text zu streichen, so dass ein dem Sinn nach völlig anderes Dokument dabei herauskam.

Auch auf diese Irrlehre musste die Kirche reagieren. Und das tat sie in der Form, dass sie bestimmte Schriften ausdrücklich zum Gebrauch im Gottesdienst bestimmte.

Nach welchen Kriterien wurden nun aber die Schriften ausgewählt, die ins Neue Testament Eingang gefunden haben?

Kriterien für die Aufnahme in den neutestamentlichen Kanon

1. Der Verfasser

Es war für die frühen Christen von großer Bedeutung, dass eine autoritative Schrift von einer bedeutenden Person geschrieben, d. h. einem Apostel oder einem Apostelbegleiter, notfalls auch von einem Apostelschüler. Schriften, die dieses Kriterium nicht erfüllten, hatten keinerlei Chance, in den Kanon aufgenommen zu werden.

Da einige Autoren dies natürlich wussten, gibt es schon in frühester Zeit viele sogenannte pseudepigraphische Schriften, also Schriften, die lediglich vorgeben, von einer solchen Autoriät des Urchristentums verfasst worden zu sein.

2. Verbreitung und Anerkennung einer Schrift

Um dieser Pseudepigraphie vorzubeugen, kommt nun ein zweites Kriterium hinzu: Der Grad der Verbreitung und der Anerkennung einer Schrift. Es konnten nur die Schriften als autoritativ gelten, die von ALLEN Christen im gesamten Reich akzeptiert wurden. Auf diese Weise wurden Schriften aussortiert, die lediglich regional Popularität genossen.

Was bedeutet der Begriff „Kanon“?

Um zu begreifen, wozu diese Festlegung auf die kanonischen Schriften dienen sollte, lohnt es, das Wort „Kanon“ einmal genauer zu betrachten. Das Wort „Kanon“ in seiner hebräischen, bzw. griechischen Grundbedeutung bezeichnet in erster Linie „einen geraden Stab“, also einen Messstab, etwas nicht Biegsames. Der Begriff Kanon ist daher als Kriterium oder einen Standard zu verstehen, aufgrund dessen die Richtigkeit einer Meinung oder einer Handlung festgestellt werden kann. (Vgl. z.B. Paulus in Gal 6,16)

In der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts wird der Begriff „Kanon“ erstmals nachweislich auf die Schriften der Bibel angewandt. Im gleichen Zuge taucht die Unterscheidung „kanonisch“ – „apokryph“ auf (bei Athanasius, ep. Fest. 39).

Der „Canon Muratori“

Eine der ältesten und wichtigsten Quellen für die Kanonsgeschichte ist der sogenannte Canon Muratori, der heute in der Bibliotheca Ambrosiana in Mailand aufbewahrt wird. (vgl. Abb.) Er lässt sich ziemlich genau datieren. Im Text des Canons wird nämlich eine Schrift diskutiert, die nach der Meinung des Verfassers zu verwerfen ist. Dabei handelt es sich um den „Hirt des Hermas“, der rasch nach seiner Abfassung große Popularität genoss. Der Verfasser der Kanonsliste ist der Meinung, dass diese Schrift nicht zu den kanonischen Schriften zu zählen sei, da „Hermas den Hirten vor Kurzem, zu unseren Zeiten in der Stadt Rom geschrieben hat, als auf dem Thron der Kirche der Stadt Rom sein Bruder, der Bischof Pius saß".

(Pastorem vero nuperrime temporibus nostris in urbe Roma Herma conscripsit sedente cathetra urbis Romae aecclesiae Pius ep(iscopu)s fratre eius)

Canon Muratori

Eine Seite aus dem „Canon Muratori“

Pius I. war Bischof von Rom von 140 bis 155 n. Chr. Also muss der Hirt des Hermas aus dieser Zeit stammen. Wenn der Verfasser der Kanonsliste nun sagt, dass der Hirt des Hermas „vor Kurzem, zu unseren Zeiten“ verfasst worden sei, dann kann man von einer Abfassung dieser Liste im zweiten Drittel des zweiten Jahrhunderts n. Chr. ausgehen.

Nachdem wir jetzt wissen, in welche Zeit diese Liste zu datieren ist, werfen wir einen Blick auf den Inhalt:

Der Kanon Muratori enthält:

  • Die vier Evangelien
  • Die Apostelgeschichte
  • Den 1. und 2. Korintherbrief
  • Den Galaterbrief
  • Den Römerbrief
  • Den Epheserbrief
  • Den Philipperbrief
  • Den Kolosserbrief
  • Den 1. und 2. Thessalonicherbrief
  • Den Philemonbrief
  • Den Titusbrief
  • Den 1. und 2. Timotheusbrief
  • Den Judasbrief
  • Den 1. und 2. Johannesbrief
  • Die Offenbarung des Johannes

sowie

  • Die Apokalypse des Petrus, wobei der Verfasser der Kanonsliste sagt, dass diese nicht von allen Christen anerkannt würde.

Gegenüber dem heutigen Kanon des Neuen Testaments fehlen also lediglich:

  • Der Hebräerbrief
  • Der Jakobusbrief
  • Der 1. und 2. Petrusbrief
  • Der 3. Johannesbrief

Es lässt sich also feststellen, dass diese ältestes Kanonsliste der Version unseres heutigen Neuen Testaments bereits sehr nahe kommt.

Die wichtigsten Belege für den neutestamentlichen Kanon:

  • Der sog. Canon Muratori (zweites Jahrhundert n. Chr.)
  • Der Kanon des Eusebius von Cäsarea (Beginn des vierten Jahrhunderts n .Chr.)
  • Der Kanon des Cyrill von Jerusalem (um 350)
  • Der Kanon der Synode von Laodicäa (um 363)
  • Der Kanon des Athanasius (um 367)
  • Der Kanon des Gregor von Nazianz (329 - 389)
  • Der Kanon des Amphilochius von Iconium (nach 394)
  • Der Kanon der dritten Synode von Karthago (397)

Alle diese Listen unterscheiden sich in den wesentlichen Punkten absolut nicht voneinander. Alle diese Listen enthalten die vier Evangelien, sowie die längere Briefe. 

Daran kann man ablesen, dass der Kanon des Neuen Testaments bereits in der Frühzeit des Christentums weitest gehend feststand und im gottesdienstlichen Gebrauch verankert war. Die Festlegung diente somit vornehmlich dem Zweck, die Verbreitung weiterer Schriften einzudämmen, die lokale oder regionale Popularität genossen.


Die folgende synoptische Übersicht der verschiedenen Kanonslisten zeigt dies noch einmal deutlich:

Übersicht Vergleich Kanonlisten

© Sebastian Buck, antike-christentum.de. 

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